OLG München 7 U 6538/20
Keine freie Widerruflichkeit der Stimmabgabe in der Gesellschafterversammlung

11.11.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG München
05.04.2023
7 U 6538/20
NZG 2023, 1407

Leitsatz | OLG München 7 U 6538/20

  1. Eine Stimmabgabe kann nach ihrem Zugang beim Versammlungsleiter nicht mehr widerrufen werden, unabhängig davon, ob ein wichtiger Grund für die Änderung des Abstimmungsverhaltens vorliegt, da es sich bei der Stimmabgabe um eine Willenserklärung iSd § 130 Abs. 1 BGB handelt und deren Widerruf nach Zugang beim Erklärungsempfänger gem. § 130 Abs. 1 S. 2 BGB grundsätzlich nicht möglich ist.
  2. Da es sich bei § 873 Abs. 2, § 929 BGB um eine Ausnahmeregelung zu § 130 Abs. 1 BGB handelt, ist diese eng auszulegen und ihr Anwendungsbereich nicht auf andere Rechtsgeschäfte auszudehnen. Sie gilt auch nur für das dingliche Vollzugsgeschäft, nicht aber für die zugrunde liegende schuldrechtliche Verpflichtung. (Leitsätze nach NZG 2023, 1407)

Sachverhalt | OLG München 7 U 6538/20

Die Klägerin ist Treugeberin der Beklagten. Die Beklagte ist ein in der Form einer KG organisierter Immobilienfonds mit über 12.000 Anlegern. Per schriftlichem Umlaufbeschluss soll nun die Zustimmung aller stimmberechtigten Anleger zum Verkauf eines näher bezeichneten Bürokomplexes eingeholt werden. Ein entsprechender Kaufvertrag wurde bereits notariell beurkundet, freilich unter der Bedingung der Zustimmung der Anleger.

In der Satzung ist das Erfordernis geregelt, dass in solchen Fällen mindestens 75% der Anleger zustimmen müssen. Während des Laufes der schriftlichen Abstimmung unterbreitete nun die Klägerin den Anlegern ein - finanziell lukrativeres - Angebot im Hinblick auf die Anteile der Anleger. Das Angebot stand unter der Bedingung, dass die Zustimmung von 75% nicht zustande kommt und der Verkauf daher nicht so wie notariell beurkundet stattfindet.

Daraufhin ereilte sich Folgendes:

Anleger A stimmt zunächst mit „Ja“. Nach dem Eingang des Angebots der Klägerin übersandte A einen auf „Nein“ korrigierten Stimmzettel.

Anleger B stimmte zunächst auch mit „Ja“, widerrief Tage später jedoch seine Zustimmung per Telefax und stimmte nunmehr mit „Nein“.

Auch die Anleger C und D verfuhren wie B.

Nach Fristablauf für die Abstimmung wurde ein Ergebnis von 75,01 % „Ja“- und 24,99 % „Nein“-Stimmen festgestellt. Es ergeht daher ein positiver Gesellschafterbeschluss hinsichtlich der beurkundeten Veräußerung.

Die Klägerin beantragte die Nichtigkeitsfeststellung des Beschlusses. Die „Ja“-Stimmen von A, B, C und D hätten nicht gezählt werden dürfen. Erstinstanzlich hatte die Klage keinen Erfolg. Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Klageziel weiter.

Entscheidung | OLG München 7 U 6538/20

Die zulässige Berufung ist unbegründet und daher ohne Erfolg.

Der Gesellschafterbeschluss ist wirksam. Die erforderliche Dreiviertelmehrheit besteht. A, B, C und D konnten ihre Stimmabgabe nicht nachträglich ändern.

Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Stimmabgabe in einer Abstimmung eine Willenserklärung iSd § 130 I BGB. Zwar ist es streitig, ob die Erklärung bei einer Abstimmung im Umlaufverfahren für deren Wirksamwerden allen anderen Adressaten, bei allen Mitstimmenden oder bei allen berechtigt an der Abstimmung Teilnehmenden zugehen muss, oder ob bereits der Zugang bei einem Mitstimmenden ausreicht. Hier jedenfalls ist in der Satzung festgelegt, dass „die Stimmabgabe bei der Gesellschaft eingehen muss“ - daher ist für den Zugang der Abstimmungserklärung der Zugang bei der Gesellschaft (und damit beim Versammlungsleiter) ausreichend.

Umstritten ist außerdem, ob eine bereits abgegebene (und dem Empfänger zugegangene) Stimme vor dem Ende des Abstimmungszeitraumes noch geändert werden kann.

Eine Ansicht hält § 130 Abs. 1 BGB für nicht für kollektive Willensbildung konzipiert und stellt daher darauf ab, ob bei der Abgabe der letzten Stimme noch alle anderen an ihrer Stimmabgabe festhalten. Die Teilnehmer einer Abstimmung im Umlaufverfahren sollen nicht schlechter gestellt sein, als es Teilnehmer an einer Präsenzveranstaltung wären. Mitunter wird auch vertreten, dass eine Abstimmungserklärung zwar mit ihrem Zugang wirksam würde, sich daraus jedoch gem. § 873 Abs. 2 BGB nicht notwendigerweise eine Bindung ergebe.

Demgegenüber lehnt die wohl herrschende Auffassung eine freie Widerrufbarkeit wegen der Rechtsnatur der Stimmabgabe als Willenserklärung gem. § 130 I BGB ab. Uneinig beurteilt wird dabei, ob dies generell gilt oder eine Änderung des Stimmverhaltens ausnahmsweise beim Vorliegen eines wichtigen Grundes im Hinblick auf die Treuepflichten der Gesellschafter möglich sein soll.

Der BGH war zuletzt im Hinblick auf eine Präsenzabstimmung der Auffassung, eine beim Versammlungsleiter zugegangene Stimmabgabe sei nicht mehr widerrufbar.

Das OLG schließt sich dieser Ansicht auch für die vorliegende Abstimmung im Umlaufverfahren an, unabhängig vom Vorliegen eines wichtigen Grundes. Dass im Falle der Entscheidung des BGH eine Präsenzabstimmung vorgelegen habe sei lediglich dahingehend relevant, dass dort - anders als im vorliegenden Fall - der § 130 Abs. 1 BGB „nur entsprechend“ (gemeint: analog) angewendet werden konnte. Hier ist aufgrund der Abstimmung unter Abwesenden eine direkte Anwendung möglich.

Im Übrigen sieht der Senat keine Notwendigkeit für eine Widerrufbarkeit aus wichtigem Grund. Dafür sei der Erklärende ausreichend über die §§ 116 ff. BGB geschützt.

Auch aus den §§ 873 Abs. 2, 929 BGB folgt entgegen des Vorbringens der Klägerin nicht, dass die sich aus § 130 Abs. 1 S. 2 BGB ergebende Bindungswirkung ausnahmsweise nicht gelten solle. Denn die abgegebenen Willenserklärungen der Gesellschafter beziehen sich lediglich auf die schuldrechtliche Verpflichtung, nicht aber auf das dingliche Vollzugsgeschäft. Als Ausnahmevorschriften sei der Anwendungsbereich der §§ 873 Abs. 2, 929 BGB nicht auszuweiten.

Entscheidend ist daher allein, ob die infragestehenden „Ja“-Stimmabgaben von A, B, C und D der Gesellschaft (= dem Versammlungsleiter) vor den „Nein“-Stimmen zugegangen sind. Hier ist der Senat davon überzeugt, dass jedenfalls der Zeitpunkt der möglichen Kenntnisnahme durch den Versammlungsleiter vor dem Eingang (und damit notwendigerweise auch vor dem Zugang) der „Nein“-Stimmen liegt und damit der Zugang der „Nein“-Stimmen für einen wirksamen Widerruf zu spät erfolgte.

Der Beschluss wurde im Ergebnis wirksam gefasst.

Die Berufung war daher zurückzuweisen. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Praxishinweis | OLG München 7 U 6538/20

Das OLG München sieht die Stimmabgabe in einer Abstimmung als („vollwertige“) Willenserklärung an, auf die § 130 Abs. 1 BGB uneingeschränkt Anwendung findet. Ein Widerruf ist nach der Auffassung des Senats daher nicht mehr möglich, sobald die ursprüngliche Erklärung (Stimme) zugegangen ist. Bei wem der Zugang zu erfolgen hat, ist jedoch umstritten. Für die Praxis empfiehlt es sich - so wie im vorliegenden Fall - eine Satzungsbestimmung aufzunehmen, die besagt, dass die Stimmabgabe gegenüber der Gesellschaft zu erfolgen hat.

Gegen die Entscheidung wurde Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt (BGH II ZR 64/23). Über diese wurde bislang noch nicht entscheiden. Die Entscheidung des OLG München ist daher noch nicht rechtskräftig.