BGH II ZB 20/22
Keine Bestellung eines Ersatzaufsichtsratsmitglieds im Falle der Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats aufgrund Boykotts eines Mitglieds

02.12.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
09.01.2024
II ZB 20/22
NZG 2024, 586

Leitsatz | BGH II ZB 20/22

  1. Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1 S. 1 AktG ergänzt werden. (amtlicher Leitsatz)
  2. Ein Beschluss über die Antragstellung zur gerichtlichen Abberufung eines boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds gemäß § 103 III AktG kann in einem dreiköpfigen Aufsichtsrat ohne Teilnahme des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds an der Abstimmung mit den Stimmen der beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder wirksam gefasst werden. (redaktioneller Leitsatz)

Sachverhalt | BGH II ZB 20/22

Der Aufsichtsrat der P-AG besteht gemäß ihrer Satzung aus drei Mitgliedern und ist nur beschlussfähig, wenn die drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen. In einer außerordentlichen Hauptversammlung vom 25.08.2021 beschlossen die beiden, jeweils zur Hälfte beteiligten Aktionäre der P-AG – die H-KG und die B-KG – die Bestellung der weiteren Beteiligten X zum Mitglied des Aufsichtsrats.

Mit Schriftsatz vom 09.02.2022 beantragten die beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder (Antragsteller zu 3 und 4) und zwei Vorstandsmitglieder (Antragsteller zu 1 und 2) beim Registergericht gemäß § 104 Abs. 1 AktG für die Dauer bis zur Bestellung eines neuen Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung ein Ersatzaufsichtsratsmitglied für die (neu bestellte) weitere Beteiligte X zu bestellen, da diese ihre Mitwirkung im Aufsichtsrat verweigere und dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführe.

Das Registergericht hat den Antrag zurückgewiesen, da die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 AktG nicht vorlägen. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde vom Beschwerdegericht ebenfalls zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter.

Entscheidung | BGH II ZB 20/22

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, aber hat in der Sache keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Aufsichtsrats gem. § 104 Abs. 1 S. 1 AktG lägen nicht vor.

Zunächst führt der BGH aus, dass das Fehlen eines Mitglieds i.S.d. § 104 Abs. 1 S. 1 AktG der dauerhaften Amtsverhinderung des Aufsichtsratsmitglieds gleichstehe, z.B. wegen rechtlicher, wie die Vertretung eines Vorstandsmitglieds nach § 105 Abs. 2 S. 1 AktG, oder tatsächlicher Verhinderung, etwa infolge Krankheit, Unerreichbarkeit oder eines dauerhaften Interessenkonflikts. Die weitere Beteiligte X sei jedoch weder rechtlich noch tatsächlich dauerhaft an der Ausübung ihres Aufsichtsratsmandats gehindert. Die (unterstellte) Verhinderung der Geltendmachung von Zahlungsansprüchen der P-AG gegen die Erbengemeinschaft nach H., der auch die Beteiligte angehört, durch die Unterlassung der Mitwirkung im Aufsichtsrat stelle keinen dauerhaften, sondern lediglich punktuellen Interessenkonflikt der X dar, der vom Anwendungsbereich des § 104 Abs. 1 AktG nicht erfasst sei.

Darüber hinaus stellt der 2. Zivilsenat fest, dass ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig ist, nicht entsprechend § 104 Abs. 1 S. 1 AktG ergänzt werden könne. Nach Ansicht des BGH sei im Falle eines dauerhaften obstruktiven Verhaltens eines Aufsichtsratsmitglieds keine Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats gegeben, die eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1 S. 1 AktG erfordere. Jeder Form von Obstruktion sei mit den vorgesehenen Rechtsbehelfen gegen unbotmäßiges Verhalten von Organmitgliedern zu begegnen.

Eine analoge Anwendung des § 104 Abs. 1 S. 1 AktG scheide mangels Vergleichbarkeit der Interessenlage zur dauerhaften Verhinderung aus, da das Boykottverhalten jederzeit beendet werden könne. Auch die Planwidrigkeit der Regelungslücke sei abzulehnen, da eine gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats nicht geeignet sei, die durch das obstruierende Aufsichtsratsmitglied herbeigeführte Situation rechtssicher zu lösen. Denn gem. § 104 Abs. 6 AktG erlösche das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds, sobald der Mangel behoben ist. Das obstruktive Aufsichtsratsmitglied habe also die Möglichkeit, durch sein Erscheinen zur Aufsichtsratssitzung nach der gerichtlichen Ersatzbestellung die Beschlussfähigkeit des Gremiums wiederherzustellen, was den Amtsverlust des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds zur Folge hätte. In diesem Falle bedürfte es dann einer erneuten gerichtlichen Ersatzbestellung, wenn das Aufsichtsratsmitglied zu seinem obstruktiven Verhalten zurückkehrt.

Praxishinweis | BGH II ZB 20/22

Trotz der Ablehnung des eigentlich streitgegenständlichen § 104 Abs. 1 AktG (analog) zeigt der BGH erfreulicherweise auch verschiedene Möglichkeiten auf, wie das Problem eines boykottierenden Mitglieds eines dreiköpfigen Aufsichtsrates nach den Vorschriften des AktG in der Praxis gelöst werden kann. Hierfür ist das boykottierende Aufsichtsratsmitglied zunächst abzuberufen. Im Anschluss muss ein neues Aufsichtsratsmitglied durch die Hauptversammlung oder das Gericht bestellt werden.

Einerseits können Aufsichtsratsmitglieder, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an die Wahlvorschläge gewählt worden sind, nach § 103 Abs. 1 S. 1 AktG vor dem Ablauf ihrer Amtszeit abberufen werden. Andererseits kann auch das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats ein boykottierendes Aufsichtsratsmitglied nach § 103 Abs 3 S. 1 AktG abberufen, da bei einem nachweisbaren Boykottverhalten in dessen Person ein wichtiger Grund im Sinne der Norm vorliegt. Ein Beschluss zu einer solchen Antragsstellung (§ 103 Abs. 3 S. 2 AktG) kann auch in einem dreiköpfigen Aufsichtsrat ohne Teilnahme des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds an der Abstimmung mit den Stimmen der beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder wirksam gefasst werden. § 108 Abs. 2 S. 3 AktG, der für die Beschlussfähigkeit eines Aufsichtsrates grundsätzlich die Teilnahme von mindestens drei Mitgliedern vorschreibt, ist in einem Fall des zielgerichteten Rechtsmissbrauchs (schuldhafte Verhinderung der Beschlussfähigkeit durch Fernbleiben) insoweit teleologisch zu reduzieren. Anschließend ist durch die Hauptversammlung (§ 101 AktG) oder – im Falle des dreiköpfigen Aufsichtsrats – durch das Gericht (§ 104 AktG) ein neues Aufsichtsratsmitglied zu bestellen.

Von vornherein hätte sich eine Lahmlegung des Aufsichtsrats durch ein boykottierendes Mitglied verhindern lassen, indem der Aufsichtsrat mit mindestens vier Mitglieder besetzt gewesen wäre. So ist die für eine ordnungsgemäße Beschlussfassung erforderliche Anzahl von drei Aufsichtsratsmitgliedern trotz Nichtteilnahme eines Mitglieds gegeben, sodass die Handlungsfähigkeit gewährleistet ist.