EuGH C-80/19
Grenzüberschreitender Bezug bei Erbfall – Gewöhnlicher Aufenthalt des Erblassers

19.05.2021

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

EuGH
16.07.2020
C-80/19
NJW 2020, 2947

Leitsatz | EuGH C-80/19

  1. Die VO (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist dahin auszulegen, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat – in dem sich das Nachlassvermögen befindet, während die Erbberechtigten ihren Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben – nicht abgebrochen hatte. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung ist von der mit der Erbsache befassten Behörde in nur einem dieser Mitgliedstaaten festzulegen.
  2. Art. 3 II der VO (EU) Nr. 650/2012 ist dahin auszulegen, dass die litauischen Notare – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – keine gerichtlichen Funktionen ausüben, wenn sie ein nationales Nachlasszeugnis ausstellen. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die Notare in Ausübung einer Befugnisübertragung oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln und folglich als „Gerichte“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können.
  3. Art. 3 I Buchst. g der VO (EU) Nr. 650/2012 ist dahin auszulegen, dass für den Fall, dass das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden können, von ihnen ausgestellte Nachlasszeugnisse als „Entscheidungen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, so dass die Notare für die Ausstellung der Nachlasszeugnisse die Zuständigkeitsregeln des Kapitels II dieser Verordnung anwenden können.
  4. Die Art. 4 und 59 der VO (EU) Nr. 650/2012 sind dahin auszulegen, dass Notare eines Mitgliedstaats, die nicht als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden, berechtigt sind, nationale Nachlasszeugnisse ohne die Befolgung der allgemeinen Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung auszustellen. Wenn das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass die nationalen Nachlasszeugnisse die Voraussetzungen nach Art. 3 I Buchst. i dieser Verordnung erfüllen und daher als „öffentliche Urkunden“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, entfalten diese Nachlasszeugnisse in den anderen Mitgliedstaaten die Wirkungen, die Art. 59 I und Art. 60 I der VO (EU) Nr. 650/2012 den öffentlichen Urkunden verleihen.
  5. Die Art. 4, 5, 7 und 22 sowie Art. 83 II und IV der VO (EU) Nr. 650/2012 sind dahin auszulegen, dass aufgrund des Willens des Erblassers und der Vereinbarung zwischen seinen Erbberechtigten ein in Erbsachen zuständiges Gericht bestimmt und ein Erbrecht eines Mitgliedstaats angewandt werden kann, die sich von denjenigen unterscheiden, die sich aus der Anwendung der in dieser Verordnung aufgestellten Kriterien ergeben würden.

(amtliche Leitsätze)

Sachverhalt | EuGH C-80/19

Das Urteil des EuGH ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Ausstellung eines Nachlasszeugnisses durch eine Notarin mit Sitz in Litauen.

Die Erblasserin, eine litauische Staatsangehörige, war nachdem sie einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet hatte, nach Deutschland gezogen. Im Jahr 2013 errichtete sie vor einer Notarin in Litauen ein Testament, in dem sie ihren Sohn als Alleinerben einsetzte. Im Zeitpunkt des Erbfalls war auf die Erblasserin eine Wohnung in Litauen eingetragen.

Nach dem Tod seiner Mutter wandte sich der Sohn im Jahr 2017 an eine Notarin in Litauen und beantragte die Eröffnung des Nachlassverfahrens und die Ausstellung eines Nachlasszeugnisses. Die Notarin lehnte die Ausstellung des Nachlasszeugnisses ab, da der gewöhnliche Aufenthalt der Erblasserin iSv. Art. 4 der VO Nr. 650/2012 als in Deutschland belegen anzusehen sei.

Daraufhin erhob der Sohn Klage. Nachdem der Klage zunächst durch ein Bezirksgericht stattgegeben wurde, wurde der Antrag des Sohnes auf die Berufung der Notarin hin vom Regionalgericht abgewiesen. Der Sohn legte daher Kassationsbeschwerde ein. Im Rahmen des darauffolgenden Verfahrens legte der Oberste Gerichtshof Litauens dem EuGH seine Fragen zur Vorabentscheidung vor.

Entscheidung | EuGH C-80/19

Der EuGH befasste sich dabei unter anderem mit der Frage, ob die EuErbVO dahin auszulegen sei, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit nicht abgebrochen hatte, und ob in diesem Fall der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung in einem einzigen Mitgliedstaat liegen muss.

Zunächst wies der EuGH darauf hin, dass sich das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezuges zwar nicht unmittelbar aus der EuErbVO (VO Nr. 650/2012) ergebe, aber jedenfalls aus Art. 81 Abs. 2 AEUV und den Erwägungsgründen der Verordnung folge.

Um festzustellen, ob eine Erbsache einen grenzüberschreitenden Bezug hat und somit in den Anwendungsbereich der EuErbVO fällt, sei erstens der Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes zu ermitteln und zweitens zu bestimmen, ob sich darüber hinaus erbrechtliche Anknüpfungspunkte zu anderen Mitgliedstaaten ergeben.

Hinsichtlich der Definition des „gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes“ verwies der EuGH auf Nr. 23 und 24 der Erwägungsgründe der Verordnung. Hieraus folge, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers von der mit der Erbsache befassten Behörde anhand einer Gesamtbeurteilung der Umstände des Einzelfalls in einem einzigen Mitgliedstaat festzulegen ist.

Würde man die EuErbVO so auslegen, dass der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers in mehreren Mitgliedstaaten liegen kann, so würde dies zu einer Nachlassspaltung führen, was im Ergebnis und übereinstimmend mit der Rechtsprechung des EuGH mit den Zielen der Verordnung unvereinbar wäre.

Darüber hinaus sei zu prüfen, ob der Nachlass einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist. Dies sei dann der Fall, wenn sich ein anderer erbrechtlicher Anknüpfungspunkt in einem anderen Mitgliedstaats als dem, in dem der Erblasser zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, befindet. Der EuGH verwies auch insofern auf seine bisherige Rechtsprechung , wonach ein Erbfall grenzüberschreitenden Bezug aufweist, wenn der Nachlass Vermögen umfasst, das in verschiedenen Mitgliedstaaten – und insbesondere in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der Erblasser zuletzt seinen Aufenthalt hatte – belegen ist. Hierauf deuteten im Übrigen auch die in der EuErbVO beispielhaft angeführten anderen Umstände hin.

Die EuErbVO (VO Nr. 650/2012) sei somit dahin auszulegen, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat – in dem sich das Nachlassvermögen befindet, während die Erbberechtigten ihren Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben – nicht abgebrochen hatte. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung sei von der mit der Erbsache befassten Behörde in nur einem dieser Mitgliedstaaten festzulegen.

Praxishinweis | EuGH C-80/19

Der EuGH bestätigt mit dieser Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung, wonach der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen jeder Verordnung autonom auszulegen ist. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist im Rahmen der EuErbVO somit erbrechtsspezifisch auszulegen.

Bezüglich der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist auf die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH, unter anderem zur Brüssel IIa-VO, zu verweisen.