BGH XII ZB 117/23
Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ und anwendbares Scheidungsrecht nach Rom III-VO

25.06.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
20.12.2023
XII ZB 117/23
NZI 2024, 238

Leitsatz | BGH XII ZB 117/23

Dem EuGH wird zur Auslegung von Art. 8 VO (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebands anzuwendenden Rechts (Rom III-VO) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Nach welchen Kriterien ist der gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten iSv Art. 8 Buchst. a und b Rom III-VO zu bestimmen, insbesondere

1.    Beeinflusst die Entsendung als Diplomat die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Empfangsstaat oder steht sie einer solchen sogar entgegen?

2.    Muss die physische Präsenz der Ehegatten in einem Staat von gewisser Dauer gewesen sein, bevor davon ausgegangen werden kann, dass dort ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde?

3.    Setzt die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ein gewisses Maß an sozialer und familiärer Integration in dem betreffenden Staat voraus?

Sachverhalt | BGH XII ZB 117/23

Das Verfahren betrifft die Scheidung der Ehe zwischen dem Antragsteller und der Antragsgegnerin. Das Ehepaar zog im Juni 2017 mit nahezu seinem gesamten Hausstand nach Schweden, wo der Ehemann an der Deutschen Botschaft beschäftigt war, und meldete seinen inländischen Wohnsitz in Berlin ab. Als der Ehemann im September 2019 an die Deutsche Botschaft in Moskau versetzt wurde, zogen die Beteiligten von Stockholm nach Moskau in eine Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Ihre Mietwohnung in Berlin behielten sie bei, um nach der Auslandstätigkeit des Ehemanns wieder dorthin zurückkehren zu können. Im Januar 2020 reiste die Ehefrau nach Berlin, um sich einer Operation zu unterziehen, der Ehemann reiste im August/September 2020 für ein paar Monate ebenfalls nach Berlin und wohnte für die Dauer seines Aufenthalts ebenfalls in der Mietwohnung. Nachdem die Ehefrau im Februar 2021 nach Moskau zurückkehrte, teilten die Beteiligten ihren Kindern im März 2021 mit, dass sie sich scheiden lassen wollten. Die Ehefrau reiste im Mai 2021 wieder nach Berlin zurück und lebte seither in der dortigen Mietwohnung. Das AG hat den Scheidungsantrag im Januar 2022 mit der Begründung zurückgewiesen, dass das (nach deutschem Recht erforderliche) Trennungsjahr noch nicht abgelaufen sei. Das KG hat die Ehe der Beteiligten nach russischem Sachrecht gemäß Art. 8 Buchst. b Rom III-VO geschieden. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Ehefrau, die eine Scheidung nach deutschem Sachrecht erstrebt.

Entscheidung | BGH XII ZB 117/23

Der Erfolg der Rechtsbeschwerde hängt von der Auslegung des Begriffs des „gewöhnlichen“ Aufenthalts in Art. 8 Buchst. a und b Rom III-VO ab, zu welchem bislang eine Rechtsprechung des EuGH nicht vorliegt.
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus Art. 3 I Buchst. a dritter Spiegelstrich der Brüssel IIa-VO iVm Art. 100 II Brüssel IIb-VO, wonach in Entscheidungen über die Ehescheidung die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies war bei Anrufung des AG im Juli 2021 in Deutschland. Das auf die Ehescheidung anzuwendende Recht ergibt sich aus Art. 8 Rom III-VO, da die Ehegatten keine Rechtswahl nach Art. 5 Rom III-VO getroffen haben.

Es erscheint fraglich, ob die Beteiligten in Russland ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben, weil der Ehemann als Diplomat nach Russland entsandt wurde und seinen Wohnsitz auf dem Compound der Deutschen Botschaft Moskau nicht freiwillig angemeldet hat, sondern aufgrund dienstrechtlicher Bestimmungen dazu verpflichtet war. Der Cour d’appel de Luxembourg hat die Frage, ob Diplomaten im Empfangsstaat grundsätzlich einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen können, in einer Entscheidung zu Art. 2 I Buchst. a der Brüssel II-VO in einem vergleichbaren Sachverhalt verneint. Der Ehemann könne nicht den Willen gehabt haben, im Empfangsstaat den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen zu begründen, da die Dauer seines Aufenthalts ausschließlich von der Dauer der Ausübung der diplomatischen Funktionen abhinge und die Zuweisung dieser Funktion der ausschließlichen Bestimmung durch die Regierung des Entsendestaats unterliege. Der Aufenthalt im Empfangsstaat sei daher zufällig, zeitlich begrenzt und ungewiss. Eine Absicht des Diplomaten, sich im Empfangsstaat zu integrieren, bestehe nicht und wäre auch mit der diplomatischen Funktion unvereinbar, welche eine Wahrung der Unabhängigkeit gegenüber dem Empfangsstaat erfordere.

Die Rechtsbeschwerde stützt sich im vorliegenden Fall auf diese Erwägungen und argumentiert, dass sich der Wille zur Rückkehr bereits aus der Aufrechterhaltung der Mietwohnung in Berlin ergebe und die Beteiligten in Russland auf dem Compound in einer „deutschen Enklave“ gelebt hätten, was die Bedeutung der physischen Anwesenheit relativiert hätte und der Begründung sozialer Bindungen entgegenstünde.
Der Gerichtshof hat Art. 3 I Buchst. a Brüssel IIa-VO sowie Art. 3 Buchst. a und b der Europäischen Unterhaltsverordnung dahin ausgelegt, dass die Eigenschaft der betreffenden Ehegatten als Vertragsbedienstete der Union keinen entscheidenden Gesichtspunkt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne dieser Vorschrift darstellen könne. Allerdings geht es vorliegend um die Rom III-VO, auf die sich die zur Brüssel IIa-VO und zur Europäischen Unterhaltsverordnung ergangene Rechtsprechung nicht ohne Weiteres übertragen lässt.

Für den Senat ist zweifelhaft, welchen Einfluss die Diplomatentätigkeit des Ehegatten auf die dortige Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts hat. Im Übrigen ist auch offen, nach welchen weiteren Kriterien der gewöhnliche Aufenthalt des Ehegatten zu bestimmen ist und ob die physische Präsenz der Ehegatten in einem Staat von gewisser Dauer gewesen sein muss und ob die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ein gewisses Maß an sozialer und familiärer Integration erfordert.

Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Kontexts der Bestimmungen, in denen er genannt wird, sowie der Ziele der jeweiligen Verordnung autonom auszulegen. Zur Rom III-VO liegt bislang noch keine Auslegung des Gerichtshofs vor, auch im deutschsprachigen Schrifttum besteht Uneinigkeit.

Nach den Erwägungsgründen der Rom III-VO soll der sachliche Anwendungsbereich und die Bestimmungen der Verordnung mit der Brüssel IIa-VO im Einklang stehen, woraus teilweise eine gleiche Zugrundelegung des Begriffs gefolgert wird. Danach soll der „gewöhnliche Aufenthalt“ zum einen subjektiv durch den Willen des Ehegatten, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen an einen bestimmten Ort zu legen und zum anderen objektiv durch eine hinreichend dauerhafte Anwesenheit im Hoheitsgebiet des Staates gekennzeichnet sein. Das Element der sozialen Integration trete dagegen in den Hintergrund. Demgegenüber wird teilweise aufgrund der unterschiedlichen Ratio der beiden Verordnung eine Deckungsgleichheit des Begriffs verneint und insbesondere bei der Rom III-VO eine intensivere Beziehung zum Aufenthaltsstaat gefordert. Die Entscheidung über den gewöhnlichen Aufenthalt könne daher erst nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände des Einzelfalls getroffen werden. Nach einem weiteren Erwägungsgrund der Rom III-VO soll dasjenige Recht auf die Ehescheidung angewendet werden, zu dem die Ehegatten einen engen Bezug haben.

Da sich in einer Gesamtschau die richtige Auslegung des Begriffs des „gewöhnlichen Aufenthalts weder der Verordnung selbst entnehmen lässt noch aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig abgeleitet werden kann, bedarf es eines Vorabentscheidungsverfahrens.

Praxishinweis | BGH XII ZB 117/23

Die Antworten des EuGH in Bezug auf das familienrechtliche Verfahren werden auch für das Internationale Insolvenzrecht von Bedeutung sein, da für die Insolvenzeröffnung die Gerichte des Mitgliedsstaats zuständig sind, in welchem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, vgl. Art. 3 I UAbs. 1 S. 1 EuInsVO. Bei einer natürlichen Person, die weder eine selbständige gewerbliche noch eine freiberufliche Tätigkeit ausübt, wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass ihr Interessenmittelpunkt der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts ist, vgl. Art. 3 I UAbs. 3, UAbs. 4 EuInsVO.

Im Hinblick auf die Frage der Freiwilligkeit des Ortswechsels ist die deutsche Rechtsprechung bislang davon ausgegangen, dass die Unfreiwilligkeit des Aufenthalts der Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthaltsorts entgegensteht. Daher würde beispielsweise der Vollzug einer Untersuchungshaft nicht zu einer Verlagerung des Interessensmittelpunkts nach Deutschland führen, wenn sich der Schuldner vorher im Ausland aufhielt (BGH NZI 2008, 121). Die Literatur überträgt diese Erwägungen auf die Strafhaft (vgl. Prütting/Bork/Jacoby InsO/Madaus, 98. EL 12/2023, EuInsVO Art. 3 Rn. 20 mFn. 43 und Hinweisen auf die zum Wohnsitzbegriff ergangene Entscheidung BGH NJW-RR 1996, 1217). Ob diese Erwägungen weiterhin gelten, hängt also davon ab, inwieweit der EuGH der physischen Präsenz größere Bedeutung als der Freiwilligkeit des Aufenthalts beimisst.

Auch die Frage nach der Dauer der physischen Präsenz einer Person in einem Staat ist für die EuInsVO von Bedeutung, da nach Art. 3 I UAbs. 4 S. 1 EuInsVO nur vermutet wird, dass der Interessensmittelpunkt der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts ist, wenn dieser nicht in den sechs Monaten vor Stellung des Insolvenzeröffnungsantrags in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde. Das hat insoweit Bedeutung, als dass sich nach dem EuGH der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dort befindet, wo der Schuldner der Verwaltung seiner wirtschaftlichen Interessen nachgeht, die meisten Einkünfte erzielt und ausgibt oder wo sich der Großteil seines Vermögens befindet (EuGH NZI 2020, 805).

Die Antwort auf die Frage, ob der gewöhnliche Aufenthalt auch ein gewisses Maß an sozialer und familiärer Integration voraussetzt kann in Deutschland einen Rechtsprechungswandel bewirken, da der BGH bislang für die Zwecke der EuInsVO den tatsächlichen Lebensmittelpunkt verstanden hat, also der Ort, der den Schwerpunkt der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen des Schuldners bildet (BGH NZI 2018, 997). Bei der Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls wird hierbei der Intensität beruflicher und familiärer Bindungen regemäßig besondere Bedeutung beigemessen. Auf europäischer Ebene wird demgegenüber vertreten, dass der sozialen und familiären Situation des Schuldners für die Bestimmung des Interessensmittelpunkts nicht maßgeblich sein könnte, weil Gläubiger nicht erkennen könnten, wo die Verwandten lebten. Schließt sich der EuGH dem an, dürften die familiären und sozialen Beziehungen des Schuldners nicht mehr berücksichtigt werden dürfen.

Das Abstellen auf die wesentlichen Vermögensgegenstände ist insoweit vorzugswürdig, als dass sich bestimmte Vermögenswerte, wie etwa Immobilien und Gesellschaftsbeteiligungen, nicht in einen anderen Mitgliedstaat verbringen lassen, so dass sich durch diese Anknüpfung Forum Shopping verhindern lässt (eines der Ziele der EuInsVO) und die Abwicklung des Insolvenzverfahrens erleichtert wird, da oft Maßnahmen zur Sicherung des schuldnerischen Vermögens nötig sind, jedes Insolvenzgericht mit seinem eigenen (Sachen-)Recht am besten vertraut ist und daher die im eigenen Land belegenen Vermögenswerte am effektivsten sichern kann.