07.04.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
EuGH (Große Kammer)
19.12.2024
C-295/23
BeckRS 2024, 35915
Art. 15 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 der RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt und Art. 63 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der es unzulässig ist, dass Geschäftsanteile an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf einen reinen Finanzinvestor übertragen werden, der nicht die Absicht hat, in der Gesellschaft eine in dieser Regelung bezeichnete berufliche Tätigkeit auszuüben, und die bei Zuwiderhandlung den Widerruf der Zulassung der betreffenden Rechtsanwaltsgesellschaft zur Rechtsanwaltschaft vorsieht.
Die Halmer Rechtsanwaltsgesellschaft (HR) wurde im Jahr 2020 als Unternehmensgesellschaft (UG) gegründet und erhielt die Zulassung zur Führung einer Anwaltsgesellschaft gemäß § 59c Abs. 1 BRAO a.F. Ihr Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter war ursprünglich RA Halmer. Später veräußerte RA Halmer 51 % der Anteile an der HR an die SIVE Beratung und Beteiligung GmbH (SIVE), ein österreichisches Unternehmen, das ausschließlich Finanzinvestitionen tätigt und keine juristische Ausbildung oder Erfahrung im Bereich der Rechtsberatung besitzt.
Im Jahr 2022 stellte die Rechtsanwaltskammer München fest, dass die Struktur der HR gegen §§ 59a und 59e BRAO a.F. verstoße, da Kapitalbeteiligungen an einer Rechtsanwaltsgesellschaft nur durch Personen gehalten werden dürften, die Rechtsanwälte oder Angehörige der genannten anderen Berufe sind. Infolgedessen widerrief die Kammer die Zulassung der HR zur Anwaltschaft, da SIVE als nicht berufsqualifizierte Gesellschaft nicht in Einklang mit den Anforderungen stand.
Die HR erhob daraufhin Klage gegen den Widerruf. Der Bayerische Anwaltsgerichtshof legte dem EuGH im Wesentlichen die Frage vor, ob die deutschen Bestimmungen, die die Übertragung von Geschäftsanteilen an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf reine Finanzinvestoren verbieten, mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) und der Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt vereinbar sind.
Im Ergebnis stellt der EuGH fest, dass die Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art 63 AEUV und die Dienstleistungsrichtlinie (Art. 15 Abs. 2 Buchst c. und Abs. 3 der RL 2006/123/EG), die die Niederlassungsfreiheit konkretisiere, einer nationalen Regelung nicht entgegenstehe, nach der es unzulässig ist, dass Geschäftsanteile an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf einen reinen Finanzinvestor übertragen werden, der nicht die Absicht hat, in der Gesellschaft eine in dieser Regelung bezeichnete berufliche Tätigkeit auszuüben, und die bei Zuwiderhandlung den Widerruf der Zulassung der betreffenden Rechtsanwaltsgesellschaft zur Rechtsanwaltschaft vorsieht.
Zunächst führt der Gerichtshof aus, dass der Sachverhalt sowohl unter die Niederlassungsfreiheit als auch unter die Kapitalverkehrsfreiheit falle. Denn die nationale Regelung ziele darauf ab, jede Beteiligung, gleich welchen Umfangs, von Personen, die weder Rechtsanwälte noch Angehörige eines in § 59a Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 BRAO a.F. genannten Berufs sind, an einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu verhindern. Im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit sei die Vereinbarkeit der §§ 59a und 59e BRAO a.F. jedoch vorrangig an der Richtlinie 2006/123/EG zu messen, da die Rechtsberatung in deren Anwendungsbereich falle und die Vorschriften der BRAO „Anforderungen“ im Sinne des Art. 4 Nr. 7 (i.V.m. Art. 15 Abs. 2 Buchst. c) der RL 2006/123 seien, die sich auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen beziehen.
Die Beschränkung der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit durch die §§ 59a und 59e BRAO a.F. sei nach Ansicht des EuGH nicht diskriminierend sowie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt (Erforderlichkeit) und genügen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Die §§ 59a und 59e BRAO a.F. seien zur Sicherstellung der anwaltlichen Unabhängigkeit und Integrität, der Wahrung des Transparenzgebots sowie der Beachtung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht (Schutz der Rechtspflege) geeignet und erforderlich. So würden die Regelungen insbesondere ausschließen, dass reine Finanzinvestoren in der Lage wären, die Entscheidungen und die Geschäfte einer Rechtsanwaltsgesellschaft – an wirtschaftlichen Interessen orientiert – zu beeinflussen, sodass die völlige (auch finanzielle) Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gewährleistet werde. Die Beschränkung gehe nicht über das hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und könne nicht durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden.
Zudem stehe es in Ermangelung einer Harmonisierung der für den Rechtsanwaltsberuf geltenden Berufs- und Standesregeln auf Unionsebene grundsätzlich jedem Mitgliedstaat frei, die Ausübung dieses Berufs in seinem Hoheitsgebiet zu regeln. In Anbetracht dieses Beurteilungsspielraums dürfe ein Mitgliedsstaat legitimerweise davon ausgehen, dass der Rechtsanwalt nicht in der Lage wäre, seinen Beruf unabhängig und unter Beachtung seiner Berufs- und Standespflichten auszuüben, wenn er einer Gesellschaft angehört, zu deren Gesellschaftern Personen zählen, die zum einen weder den Rechtsanwaltsberuf noch einen anderen Beruf ausüben, für den es Regulative in Form von Berufs- und Standesregeln gibt, und die zum anderen ausschließlich als reine Finanzinvestoren handeln, ohne die Absicht zu haben, in der Gesellschaft eine entsprechende Berufstätigkeit auszuüben.
Nach Ansicht des EuGH sind nationale Regelungen, die die Übertragung von Geschäftsanteilen an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf reine Finanzinvestoren verbieten, mit dem Unionsrecht vereinbar. Die Beschränkung der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit sei gerechtfertigt, um die anwaltliche Unabhängigkeit unter Beachtung der Berufs- und Standespflichten sicherzustellen. Der Generalanwalt hatte in seinem Schlussantrag vom 04.07.2024 noch mehrere Inkohärenzen des deutschen berufsrechtlichen Fremdbesitzverbots aufgeworfen, unter anderem seien die sozietätsfähigen Berufe nicht sinnvoll voneinander abzugrenzen. Der Gerichtshof greift diese Inkohärenzen in der Begründung zur Verhältnismäßigkeit der Normen hingegen nicht auf und nimmt in der Vorlageentscheidung an, dass eine mögliche Ungleichbehandlung bestimmter Berufe aufgrund der Konstellation eines „reinen Finanzinvestors“ im Ausgangsverfahren für die Entscheidung nicht relevant sei.
Zu beachten ist, dass sich der EuGH nicht mit den aktuell geltenden Vorschriften der BRAO befasst, sondern mit der Rechtlage, wie sie vor der großen BRAO-Reform bis 31.07.2022 galt. Gemäß § 59e BRAO a.F. durften Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft nur Anwälte sowie wenige andere Berufsträger – z.B. Steuerberater und Wirtschaftsprüfer – sein, wenn sie tatsächlich in der Kanzlei beruflich tätig waren und zusätzlich die Mehrheit der Geschäftsanteile den Anwälten zustand. Mit der BRAO-Reform 2022 wurde der Kreis der sozietätsfähigen Berufe auf alle freien Berufe i.S.d. § 1 Abs. 2 PartGG erweitert (§59c Abs. 1 Nr. 4 BRAO). Da sich an dem Fremdbesitzverbot – insbesondere für reine Finanzinvestoren und Versicherer relevant – jedoch grundsätzlich nichts geändert hat, ist die Rechtsprechung des EuGH auch auf die aktuelle Rechtslage anzuwenden.