FG Münster 4 K 1158/20 L
Rechtswidrigkeit einer Ermessensentscheidung aufgrund erstmals im Klageverfahren vorgetragener Umstände

02.09.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

FG Münster
19.12.2022
4 K 1158/20 L
NZI 2023, 347

Leitsatz | FG Münster 4 K 1158/20 L

  1. Das Finanzgericht hat gem. § 76 FGO Feststellungen dazu zu treffen, ob Anlass zur Begründung eines Auswahlermessens durch die Behörde bestanden hätte, etwa weil neben dem in Haftung genommenen Steuerpflichtigen ein weiterer Haftungsschuldner in Betracht kommt. Diesbezüglich kommt es auf die Sachlage an, wie sie im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung festgestellt wird und nicht – wie bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung – auf die Umstände an, wie sie sich im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dargestellt haben. Einem Haftungsbescheid wird – ausnahmsweise – der Boden entzogen, wenn das Klageverfahren im Rahmen der Prüfung des Haftungstatbestandes zu anderen Grundlagen der Ermessensentscheidung führt und diese tatsächlichen oder rechtlichen Erkenntnisse eine dem Steuerpflichtigen günstigere Ermessensentscheidung ermöglichen. Dies gilt selbst dann, wenn der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht nachgekommen ist (Anschluss an BFH-Rechtsprechung).
  2. Die Bestellung eines zunächst wirksam bestellten Geschäftsführers verliert u.a. ihre Wirkung, sobald dieser gem. § 6 II 2 Nr. 3a GmbHG wegen Insolvenzverschleppung (hier: in Gestalt der nicht rechtzeitigen Stellung eines Insolvenzantrags) verurteilt worden ist; das Amt des Geschäftsführers endet kraft Gesetzes von selbst mit dem Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung. Dies gilt unbeschadet dessen, dass grundsätzlich beim Wegfall des Geschäftsführersamtes ggf. zivilrechtlich ein Gutglaubensschutz nach § 15 HGB oder allgemeine Rechtsscheingrundsätze eingreifen können.
  3. Die im Rahmen der Haftungsbegründung von der Finanzbehörde anzustellende Ermessensentscheidung ist fehlerhaft, wenn die Behörde das objektiv bestehende Auswahlermessen nicht erkannt hat bzw. nicht um die Notwendigkeit einer Auswahlentscheidung wusste, sondern davon ausgegangen ist, dass der Betroffenen alleiniger Haftungsschuldner ist (hier: nachträgliche Erkenntnis des Wegfalls der Stellung des Betroffenen als gesetzlicher Vertreter infolge rechtskräftiger Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung).
  4. Die (Auswahl-)Ermessensentscheidung muss sich auf den jeweiligen Einzelfall beziehen und kann nicht etwa durch den Hinweis auf weitere potentielle Haftungsschuldner vorweggenommen werden. Eine Auswahlentscheidung kann auch weder im Wege der Ergänzung vollständig nachgeholt noch pauschal dergestalt begründet werden, dass der Betroffene jedenfalls auch dann in Anspruch genommen werden würde, wenn andere Haftungsschuldner existieren würden.

Sachverhalt | FG Münster 4 K 1158/20 L

Der Kl. war seit dem 31.01.2014 in das Handelsregister eingetragener Geschäftsführer der J-GmbH. Gegen ihn erging ein Strafbefehl wegen Insolvenzverschleppung gem. § 15a Abs. 4 InsO, welcher am 05.11.2016 rechtskräftig wurde. Zum 31.10.2018 wurde das Gewerbe der J-GmbH abgemeldet und der Betrieb eingestellt.

Im Jahr 2019 erließ das beklagte FA einen Haftungsbescheid (nach § 69 AO) gegenüber dem Kl. wegen Rückständen der GmbH aus Umsatzsteuerschulden für das Jahr 2017 nebst Säumnis- und Verspätungszuschlägen. Den hiergegen erhobenen Einspruch des Kl. wies das FA zurück. Bei Erlass des Haftungsbescheids und der Einspruchsentscheidung hatte das FA keine positive Kenntnis von den strafrechtlichen Verurteilungen des Kl.

Im Anschluss an die Ablehnung des Einspruchs erhob der Kl. Anfechtungsklage. Im Klageverfahren stellte sich erstmals heraus, dass Kl. lediglich ein sog. „Strohmann-Geschäftsführer“ war, da er selbst nur im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses für ein Entgelt von monatlich 250 EUR bei der GmbH angestellt gewesen sei, um Erklärungen zu unterschreiben. Tatsächlich sei er von der Geschäftsführung ausgeschlossen gewesen. Vielmehr wurden alle maßgeblichen unternehmerischen Entscheidungen durch einen faktischen Geschäftsführer getroffen – den Stiefsohn des Alleingesellschafters. Des Weiteren stellte sich im Klageverfahren heraus, dass der Kl. seine Stellung als Geschäftsführer bereits vor Beginn des Haftungszeitraums aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung kraft Gesetzes (§ 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 a) GmbHG) verloren hatte.

Entscheidung | FG Münster 4 K 1158/20 L

Das FG gab der Klage statt und hob den Haftungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung auf. Die streitgegenständliche Haftungsinanspruchnahme sei schon deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil die vom FA getroffene Ermessensentscheidung keinen Bestand haben kann.

Gemäß §§ 191 Abs. 1, 69, 34 AO könne das FA den Geschäftsführer einer GmbH durch Haftungsbescheid in Anspruch nehmen, soweit er durch eine Pflichtverletzung bewirkt habe, dass Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden seien. Die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners sei zweigliedrig zu prüfen. Auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob die in Betracht kommende Person die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt, wobei der Sach- und Streitstand am Schluss der mündlichen Verhandlung maßgeblich sei (§ 76 Abs. 1 FGO). Dabei handle es sich um eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung. Auf der zweiten Stufe überprüfe das FG die Ermessensentscheidung des FA, ob und wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehme. Diese Entscheidung sei gerichtlich nur im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler überprüfbar. Diesbezüglich sei zwar die Sach- und Rechtslage bei Erlass der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich. Jedoch müsse das FG eigenständig feststellen, welche Tatsachen zu diesem Zeitpunkt vorlagen, um zu prüfen, ob ein Ermessensfehler in Form einer unvollständigen Sachverhaltsaufklärung vorliegt. Hierzu müsse das FG alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, die objektiv zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorgelegen hätten, auch wenn sie dem FA zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt waren. Daher sei für die Frage, welche Tatsachen objektiv vorgelegen hätten, der Erkenntnisstand am Ende der mündlichen Verhandlung entscheidend.

Das FG ließ auf der ersten Stufe offen, ob bereits die Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftungsinanspruchnahme des Kl. wegen des Wegfalls seiner nominellen Geschäftsführerstellung entfallen sind.

Denn jedenfalls habe sich die Ermessensentscheidung des FA im Nachhinein auf der zweiten Stufe als fehlerhaft erwiesen. Zwar sei dem FA keine Verletzung seiner Ermittlungspflicht vorzuwerfen, da vielmehr der Kl. es versäumt habe, den Sachverhalt im Einspruchsverfahren vollständig und korrekt darzulegen. Dennoch bedeute dies nicht, dass nachträglich bekannt gewordene Umstände nicht mehr berücksichtigt werden dürfen.

Im Klageverfahren sei der Ermessensentscheidung im Haftungsbescheid nach Ansicht des FG Münster die Grundlage entzogen worden. Zunächst habe der Kl. aufgrund seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung sein Amt als Geschäftsführer kraft Gesetzes verloren. Der Rechtsschein, der im Handelsregister bestand und ihn weiterhin als Geschäftsführer auswies, reiche für eine Haftung gemäß § 69 AO nicht aus. Zivilrechtlich könnten sich Dritte bis zur Löschung des Geschäftsführers aus dem Handelsregister auf den Gutglaubensschutz gem. § 15 HGB berufen. Allerdings knüpfe § 34 AO an die objektive Rechtslage an. Der Gutglaubensschutz solle nur dem Rechtsverkehr, nicht jedoch dem FA zugutekommen. Zudem habe das FA mangels ausreichender Sachverhaltsaufklärung das ihm zustehende Auswahlermessen aufgrund der Existenz eines faktischen Geschäftsführers nicht erkannt. Diese neu bekannt gewordenen Umstände könnten zumindest eine für den Kl. günstigere Ermessensentscheidung ermöglichen.

Praxishinweis | FG Münster 4 K 1158/20 L

Nach Auffassung des 4. Senats des FG Münster können im Klageverfahren gegen einen Haftungsbescheid vom Haftungsschuldner erstmals vorgetragene Umstände also dazu führen, dass sich die vom FA getroffene Ermessensentscheidung als rechtswidrig erweist.

Das FA hat gegen die Entscheidung des FG Münster Revision eingelegt (Az.: VII R 4/23). Zur Begründung führt es an, dass es trotz ausreichender Bemühungen zur Sachverhaltsaufklärung nicht erkennen konnte, dass der Geschäftsführer sein Amt verloren hatte. Auch der Umstand, dass der Geschäftsführer diese Tatsache erst im Klageverfahren vorgetragen habe, habe dazu beigetragen. Der BFH muss folglich darüber entscheiden, ob es eine Präklusion für Tatsachen gibt, die das FA ohne Mitwirkung des Haftungsschuldners nicht ermitteln kann (vgl. auch § 41 Abs. 1 Nr. 4 BZRG).