KG 6 W 31/23
Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand

28.04.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

KG
10.10.2023
6 W 31/23
ZEV 2024, 600

Leitsatz | KG 6 W 31/23

  1. Die Ausschlagungsfrist beginnt bei gesetzlicher Erbfolge erst, wenn der Erbe weiß, dass er selbst Erbe geworden ist und aus welchem konkreten erbrechtlichen Tatbestand sich die rechtliche Folge seiner Berufung ergibt. Ein Kennenmüssen oder eine (grob) fahrlässige Unkenntnis seiner Erbenstellung steht einer Kenntnis nicht gleich, auf Verschulden kommt es nicht an. (n. amtl. Ls.)
  2. Bei einem lange abgebrochenen Kontakt zur Erblasserin kann ein gesetzlicher Erbe annehmen, es gebe die testamentarische Erbeinsetzung einer der Erblasserin näher stehenden Person. Allein die Übersendung eines Testaments führt nicht zur Kenntnis von der Stellung als gesetzlicher Erbe. (n. amtl. Ls.)
  3. Die irrtümliche Annahme, der Nachlass sei überschuldet, stellt nur dann einen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses iSd § 119 Abs. 2 BGB dar, wenn der Erbe nur deshalb von einer Überschuldung ausging, weil er keine Kenntnis von einem weiteren werthaltigen Nachlassgegenstand hatte. (n. amtl. Ls.)

Sachverhalt | KG 6 W 31/23

Die Erblasserin (E) war in zweiter Ehe mit dem vorverstorbenen AB verheiratet. Beide hatten Kinder aus früheren Ehen: AB hatte zwei Töchter und einen Sohn, während E die Antragstellerin (Ast.) als einzige Tochter hatte.  

E und AB errichteten 1997 ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben einsetzten. Die Kinder erhielten zu Lebzeiten jeweils 10.000 DM, wodurch ihre Pflichtteilsansprüche abgegolten wurden.  

Nach dem Tod der E im Jahr 2022 erhielt die Ast. eine Abschrift dieses Testaments. Aufgrund abgebrochenen Kontakts zur Erblasserin und mangels weiterer Informationen über die gesetzliche Erbfolge ging sie zunächst nicht davon aus, dass sie Erbin sein könnte. Erst mit der Übersendung von Unterlagen durch das Nachlassgericht am 28.04.2022 wurde ihr bewusst, dass sie potenziell gesetzliche Erbin sein könnte.  

Am 13.05.2022 schlug sie das Erbe aus, da sie aufgrund der ihr vorliegenden Informationen – insbesondere über Mietrückstände und einen niedrigen Kontostand – von einer Überschuldung des Nachlasses ausging.  

Ende Juni 2022 erfuhr sie jedoch, dass der Nachlass tatsächlich werthaltig war und etwa 350.000 EUR umfasste. Daraufhin focht sie am 19.07.2022 die Ausschlagung wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses gemäß § 119 Abs. 2 BGB an.  

Das Nachlassgericht wies ihren Erbscheinsantrag am 15.03.2023 zurück. Es argumentierte, dass kein beachtlicher Irrtum vorlag, da die Ast. bewusst das Erbe nicht antreten wollte und sich selbst über den Nachlasswert hätte informieren können. Zudem sei die Ausschlagungsfrist bereits abgelaufen.  

Die Ast. legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, die das Nachlassgericht jedoch nicht abhalf. Es bestätigte, dass nach Erschöpfung des gemeinschaftlichen Testaments die gesetzliche Erbfolge greife, jedoch sei die Ausschlagung wirksam, da die Ast. das Erbe selbst bei Kenntnis ihrer Erbenstellung ausgeschlagen hätte.

Entscheidung | KG 6 W 31/23

Die Beschwerde der Antragstellerin (Ast.) ist zulässig und begründet. Sie ist folglich gesetzliche Erbin der Erblasserin (E).

Die Ast. war ursprünglich gesetzliche Alleinerbin nach § 1924 Abs. 1 BGB. Ein gemeinschaftliches Testament von 1997 war nach dem ersten Erbfall erschöpft. Daher war der Rechtspfleger für das Erbscheinsverfahren funktionell zuständig.

Die Ast. hatte das Erbe zunächst form- und fristgerecht ausgeschlagen (§§ 1942 ff. BGB), sodass der Erbfall nach § 1953 Abs. 1 BGB als nicht erfolgt galt. Die Ausschlagungsfrist begann jedoch erst mit der Kenntnis der Erbenstellung, die die Ast. erst durch ein gerichtliches Schreiben vom 28.04.2022 erlangte.

Die Ast. hat ihre Ausschlagung am 19.07.2022 jedoch wirksam angefochten (§ 1957 Abs. 1 BGB).

Die Ausschlagung einer Erbschaft kann nur nach den allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen gemäß §§ 119 ff. BGB angefochten werden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 22.03.2023 – IV ZB 12/22, Rn. 14; Weidlich, a.a.O., § 1954 Rn. 1 m.w.N.). Nach herrschender Meinung, der sich auch der Senat anschließt, liegt ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB nur dann vor, wenn die irrige Annahme einer Überschuldung auf einer falschen Vorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses beruhte. Dies trifft insbesondere zu, wenn der Erbe lediglich deshalb von einer Überschuldung ausging, weil ihm ein werthaltiger Nachlassbestandteil nicht bekannt war (vgl. ständige Rechtsprechung des Senats, etwa Beschluss vom 20.02.2018 – 6 W 1/18; ebenso BGH, Urteil vom 08.02.1989 – BGHZ 106, 359; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31.01.2011 – I-3 Wx 21/11, juris Rn. 16 m.w.N.).

Kein Anfechtungsgrund nach § 119 Abs. 2 BGB liegt hingegen vor, wenn die Ausschlagung unabhängig von der Höhe und Struktur der Erbschaft oder aufgrund einer befürchteten Überschuldung auf Grundlage ungenauer oder veralteter Informationen erfolgte (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O., juris Rn. 18 ff.; OLG Hamburg, Beschluss vom 07.03.2018 – 2 W 31/16, juris 26 f.). Wer seine Entscheidung zur Ausschlagung nicht auf Grundlage einer fundierten Bewertung bekannter oder zugänglicher Tatsachen getroffen hat, sondern lediglich spekulierte, kann sich nicht auf einen Irrtum berufen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.10.2016 – I-3 Wx 155/15, juris Rn. 19).

Der Anfechtungsgrund war demnach ein Irrtum über die Zusammensetzung des Nachlasses (§ 119 Abs. 2 BGB); die Ast. war irrtümlich von einer Überschuldung des Nachlasses ausgegangen, da sie irreführende Informationen vom Nachlassgericht erhalten hatte. Erst Ende Juni 2022 erfuhr sie von erheblichen Sparvermögen der Erblasserin. Hätte sie dies gewusst, hätte sie das Erbe nicht ausgeschlagen. Daher war dieser Irrtum auch kausal für ihre Ausschlagungserklärung. Die Kausalität des Irrtums für eine angefochtene Ausschlagungserklärung ist danach zu beurteilen, ob der Erklärende bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Ausschlagung nicht erklärt hätte (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 2016, I-3 Wx 12/16, juris Rn. 17).

Auch erfolgte die Anfechtung frist- und formgerecht. Indem die Ast. die zunächst wirksame Ausschlagungserklärung wirksam angefochten hat, gilt ihre Anfechtung gemäß § 1957 Abs. 1 BGB als Annahme.

Praxishinweis | KG 6 W 31/23

  1. Die Entscheidung verdeutlicht die Wichtigkeit, dass Erben sich vor einer Ausschlagung umfassend über die Zusammensetzung des Nachlasses informieren sollten, um Fehlentscheidungen zu vermeiden. Dazu gehört auch, Entscheidungen nicht auf vagen oder veralteten Informationen zu basieren. Falls Unsicherheiten bestehen, ist eine Fachberatung, z. B. durch einen Notar, daher ratsam.
  2. Die Ausschlagung der Erbschaft kann nur nach den allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen unter Lebenden gemäß §§ 119 ff. BGB angefochten werden.
  3. Eine Ausschlagung kann nur bei einem Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses angefochten werden, insbesondere wenn werthaltige Nachlassgegenstände unbekannt waren.
  4. Eine Ausschlagung aus bloßer Befürchtung einer Überschuldung oder ohne genaue Prüfung begründet keinen Anfechtungsgrund nach § 119 Abs. 2 BGB.
  5. Wer die Erbschaft ohne eine fundierte Bewertung bekannter oder zugänglicher Fakten ausschlägt und stattdessen lediglich auf Vermutungen basiert, kann keinen Anfechtungsgrund geltend machen.