Die virtuelle Mitgliederversammlung im Vereinsrecht – Stand der Diskussion und aktuelle Entwicklungen

I.    Ausgangslage

Die Beschlussfassung des Vereins bemisst sich nach § 32 BGB. Dieser regelt, dass die Vereinsangelegenheiten durch Beschlussfassung in einer Mitgliederversammlung geordnet werden. Das BGB geht für die Mitgliederversammlung – wie bei Haupt- und Gesellschafterversammlungen bei der AG und GmbH – vom Grundsatz der Präsenzversammlung aus. Das gesetzliche Leitbild wird den Mitgliedern jedoch gem. § 40 BGB zur Disposition gestellt. Darüber hinaus ist ein Beschluss gem. § 32 Abs. 1 BGB auch ohne Mitgliederversammlung gültig, wenn alle Mitglieder ihre Zustimmung zu dem Beschluss schriftlich erklären. Erst-Recht-Schluss sind daher virtuelle Mitgliederversammlungen prinzipiell zulässig. Diesbezüglich ist jedoch in dreierlei Hinsicht zu differenzieren:

 

1.    Zulässigkeit unter entsprechender Satzungsbestimmung

Nach zutreffender Ansicht sind virtuelle Mitgliederversammlungen nur zulässig, wenn eine entsprechenden Satzungsbestimmung dies ermöglicht. Bei Vorliegen einer entsprechenden Satzungsbestimmung muss dem Grundsatz der Dispositivität der vereinsrechtlichen Vorschriften (§ 40 BGB) Vorrang vor den Interessen der Minderheit eingeräumt werden. Nach einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2021 sind virtuelle Versammlungen aber nicht per se zulässig, sondern nur wenn sichergestellt ist, dass die Modalitäten im Einzelfall geeignet sind, den Versammlungszweck zu erfüllen (sog. Funktionsäquivalenz).  Es muss daher darauf geachtet werden, dass virtuelle Versammlungen nur zulässig sind, wenn eine der Präsenzversammlung vergleichbare Zwei-Wege-Kommunikation sichergestellt ist. Der Vorstand muss im Übrigen auch für ein Mindestmaß an Datensicherheit sorgen. Er muss sich bei der Entscheidung für ein digitales Format darüber bewusst sein, dass die Sicherung der Persönlichkeitsrechte, die Datensicherheit sowie die Unberührtheit des Abstimmungsvorgangs durch Dritte bei virtuellen Versammlungen empfindlich eingeschränkt ist. Gegebenenfalls muss die Satzung auch bestimmte wichtige Beschlussgegenstände wie Zustimmungsbeschlüsse zu Umwandlungen von virtuellen Formaten ausnehmen.

 

2.    Zulässigkeit analog § 32 Abs. 2 BGB

Nach zutreffender Meinung ist eine virtuelle Versammlung analog § 32 Abs. 2 BGB auch ohne Satzungsgrundlage bei Zustimmung sämtlicher Mitglieder zulässig. Diese Vorschrift hat jedoch praktisch keine Bedeutung, da das Gesetz die Wirksamkeit dieser Abstimmung davon abhängig macht, dass sämtliche Mitglieder in Schriftform zustimmen und somit selbst eine einzelne Stimmenthaltung die Wirksamkeit des Beschlusses hindert.  

 

3.    Unzulässigkeit ohne entsprechende Satzungsbestimmung

Unzulässig ist eine virtuelle Mitgliederversammlung jedoch ohne ausdrückliche Satzungsgrundlage, selbst wenn die Art der Durchführung einer Präsenzversammlung entspricht.  Hiergegen sprechen die vereinsrechtliche Kompetenzverteilung und die Funktionentrennung.  Es erscheint als zu weitgehend, wenn allein der Vorstand über die Art der Abhaltung einer Versammlung disponieren könnte.

 

II.    Aktuelle Entwicklungen: Einfluss der Verabschiedung des Gesetzes für virtuelle Hauptversammlungen im Aktien- und Genossenschaftsrecht

Während es mittlerweile für die AG, die GmbH und die Genossenschaft Regelungen zur virtuellen Versammlung gibt, fehlen solche Vorschriften bis heute für den Verein. Dieser Zustand ist jüngst auf scharfe Kritik gestoßen. Nunmehr ist Bewegung in die Sache gekommen.

 

1.    Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

In den letzten Zügen des Gesetzgebungsverfahrens des mittlerweile in Kraft getretenen Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften beantragte die CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuss, die Regelungen zur virtuellen Vertreterversammlung der Genossenschaft auf den Verein zu erstrecken.  Nach der vorgeschlagenen Neufassung des § 32 Abs. 1 BGB hätte der Vorstand auch ohne Satzungsermächtigung vorsehen können, „dass Vereinsmitglieder an der Mitgliederversammlung ohne Anwesenheit am Versammlungsort im Wege der Bild- und Tonübertragung teilnehmen und Mitgliederrechte auf diesem Wege ausüben können.“ Begründet wurde dieses Postulat mit einem praktischen Bedürfnis, da nicht nur viele Genossenschaften, sondern auch viele Vereine während der Pandemie von den Sondervorschriften des COVMG Gebrauch gemacht hätten.  Es bedürfe dauerhafter rechtssicherer Lösungen für eine Fortführung der Möglichkeit digitaler Partizipation, ohne dass der mühsame Prozess einer Satzungsänderung durchgeführt werden müsse. Dieser Vorschlag wurde von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unlängst als Gesetzesentwurf (BT-Drs. 20/4318) eingebracht.

 

2.    Vorschlag des Bundesrats

Der Bundesrat hatte bereits im Juli 2022 einen Gesetzesentwurf (BT-Drs. 20/2532) eingebracht. Dieser sah – im Ergebnis identisch mit den Forderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Schaffung eines § 32a Abs. 1 BGB vor, nach dem der Vorstand auch ohne Ermächtigung in der Satzung vorsehen kann, dass Vereinsmitglieder an der Mitgliederversammlung ohne Anwesenheit am Versammlungsort im Wege der Bild- und Tonübertragung teilnehmen und Mitgliederrechte auf diesem Wege ausüben können.

 

3.    Vorschlag der Koalitionsfraktionen

Die Koalitionsfraktionen haben nun auch einen Vorschlag vorgelegt, der noch nicht veröffentlicht worden ist. Die vorgeschlagene Neuregelung sieht vor, dass die Mitglieder an Versammlungen auch „im Wege der elektronische Kommunikation“ teilnehmen und ihre Mitgliedsrechte ausüben können. Diese Formulierung ist deutlich weiter gewählt als die Vorschläge von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und des Bundesrats. Diese erfassten die Teilnahme und Ausübung via Telefonkonferenz, Chat oder E-Mail nicht. Letztere sollen durch die Koalitionsfraktionen aber ausdrücklich ebenfalls vorgesehen werden. An der Dispositivität des § 32 BGB soll jedoch nicht gerüttelt werden. Vereinen soll es dadurch auch weiterhin anheimgestellt bleiben, in ihren Satzungen Regelungen zur Zulässigkeit und Ausgestaltung virtueller/hybrider Mitgliederversammlungen zu treffen.

 

4.    Bewertung

Im Binnenrechtsvergleich erscheint es wenig stimmig, dass virtuelle Formate im Genossenschaftsrecht generell als zulässig deklariert werden (vgl. § 43b GenG n. F.) und mithin keine Satzungsgrundlage erforderlich ist, aber für den Vereine solche verlangt werden. Es sind zwischen den beiden Rechtsformen keine Unterschiede erkennbar, die diese Differenzierung rechtfertigen. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass diese Thematik nun durch den Gesetzgeber angegangen wird.

Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob man die Ausübung von Mitgliedschaftsrechten auch via E-Mail und Chat eröffnen soll. Solche Formate entfernen sich sehr stark von einer klassischen Versammlung und ähneln mehr einem asynchronen Versammlungsformat. Der Versammlungszweck kann auf diese Weise regelmäßig nicht erreicht werden. Zwar kann der Vorstand dem einzelnen Mitglied nach den Vorschlägen nicht das Präsenzrecht entziehen. Es erscheint jedoch dennoch vorzugswürdig, die Rechtausübung via E-Mail und Chat nicht zuzulassen, da bei einer audiovisuellen Versammlung eine bessere Eingangs- und Abstimmungskontrolle durchgeführt werden kann. Nicht zuletzt fragt sich auch, wie der Vorschlag der Regierungsfraktionen mit den Vorgaben des BGH zur Funktionsäquivalenz in Einklang zu bringen ist. Die Vorschläge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und des Bundesrats erscheinen daher überzeugender.

 

III.    Fazit und Ausblick

Nach wie vor besteht große Unsicherheit um die Zulässigkeit virtueller Mitgliederversammlungen. Die Praxis ist daher aufgerufen, sorgfältige Regelungen in die Satzungen zu implementieren.

Es ist sehr zu begrüßen, dass der Gesetzgeber die Frage nach der Zulässigkeit virtueller Mitgliederversammlungen nun auf die Tagesordnung setzt und sich für eine gesetzliche Regelung hierzu ausspricht. Die vorgestellten Vorschläge werden am 14. Dezember 2023 Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss sein. Nach hier vertretener Auffassung sollten dabei nur audiovisuelle Formate für zulässig erklärt werden.

 

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