BGH II ZR 64/23
Bindung an die Stimmabgabe vor Abschluss des Abstimmungsverfahren in einer Personengesellschaft

23.04.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
22.10.2024
II ZR 64/23
ZIP 2025, 86

Leitsatz | BGH II ZR 64/23

Die Bindung an eine Stimmabgabe vor Abschluss des Abstimmungsverfahrens in einer Personengesellschaft richtet sich zunächst nach den im Gesellschaftsvertrag oder für den konkreten Abstimmungsvorgang getroffenen Vereinbarungen der Gesellschafter sowie einem eventuell (ausdrücklich oder schlüssig) geäußerten Bindungswillen. Ergibt sich daraus keine Einschränkung der Bindung, kann ein Gesellschafter seine Stimmabgabe nach deren Wirksamwerden durch Zugang bis zum Abschluss des Abstimmungsverfahrens grundsätzlich nicht mehr frei widerrufen.

Sachverhalt | BGH II ZR 64/23

Die Klägerin ist als Treugeberin mittelbar an der beklagten Publikums-KG beteiligt. Die Beklagte forderte ihre Gesellschafter auf, im Zeitraum vom 14.11. bis 12.12.2019 im schriftlichen Umlaufverfahren über den Verkauf ihrer letzten Fondsimmobilie abzustimmen. 

Am 15.11.2019 stimmte die Treugeberin W, die über 25 Stimmen verfügte, zunächst mit „Ja“. Am 18.11.2019 unterbreitete die Klägerin den Anlegern ein bis zum 12.12.2019 befristetes Angebot zum Ankauf ihrer Beteiligungen für 34 % des Nominalwerts, sofern sie gegen den Verkauf der Immobilie stimmten. Daraufhin übersandte W am 20.11.2019 einen neuen Stimmzettel mit „Nein“ und dem Vermerk „Korrektur“. Weitere Treugeber widerriefen ebenfalls ihre zunächst erteilte Zustimmung.

Am 19.12.2019 wurde im Abstimmungsprotokoll festgestellt, dass 75,01 % der abgegebenen Stimmen für den Verkauf votierten. Die 25 Stimmen von W wurden als „Ja“ gewertet. Wären sie als Nein-Stimmen gewertet worden, wäre die gesellschaftsvertraglich erforderliche Dreiviertelmehrheit verfehlt worden. Die Klägerin erhob Nichtigkeitsfeststellungsklage gegen den Beschluss und argumentierte, dass die Gesellschafter im schriftlichen Abstimmungsverfahren ihre Stimmabgabe bis zum Ende der Abstimmungsfrist frei widerrufen könnten. Das Landgericht und das Berufungsgericht wiesen die Klage ab. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Entscheidung | BGH II ZR 64/23

Die Revision hat keinen Erfolg.

Zunächst stellt der BGH fest, dass die Stimmabgabe eines Gesellschafters im Rahmen der Beschlussfassung einer Personengesellschaft eine empfangsbedürftige Willenserklärung darstelle, die als solche grundsätzlich den allgemeinen Regeln über Rechtsgeschäfte unterliege. Die Stimmabgabe werde im Zeitpunkt ihres Zugangs wirksam, sofern diesem nicht zuvor oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht (§ 130 Abs. 1 BGB). Demzufolge sei die „Ja“-Stimme der Treugeberin W am 15.11.2019 zugegangen und mangels rechtzeitigen Widerrufs, der erst am 20.11.2019 zugegangen ist, wirksam geworden. Darüber hinaus sei die Treugeberin W an ihre Stimmabgabe vom 15.11.2019 gebunden gewesen und habe diese nicht mehr widerrufen können.

Die Bindung an eine Stimmabgabe vor Beendigung der Abstimmung in einer Personengesellschaft richte sich nach Auffassung des BGH zunächst nach den im Gesellschaftsvertrag oder für die konkrete Abstimmung getroffenen Vereinbarungen der Gesellschafter sowie einem (ausdrücklich oder schlüssig) geäußerten Bindungswillen. Im vorliegenden Fall ergebe sich eine solche Bindung weder aus dem Gesellschaftsvertrag noch sei der Stimmerklärung der W durch Auslegung ein Bindungswille zu entnehmen.

Die Bindung eines Gesellschafters an seine Stimmabgabe im Rahmen der Beschlussfassung in einer Personengesellschaft nach deren Zugang bis Beendigung des Abstimmungszeitraums ist – bei Fehlen gesellschaftsvertraglicher sowie sonstiger Vereinbarungen bzw. Erklärungen – umstritten. Nach der Rechtsprechung des Reichsgericht bestand vor Wirksamwerden des Beschlusses keine Bindung an die Stimmabgabe, sodass diese bis Ablauf des Abstimmungszeitraums grundsätzlich frei widerruflich war. Die überwiegende Auffassung im Schrifttum lehnt eine freie Widerruflichkeit der abgegebenen Stimme grundsätzlich ab, hält jedoch ausnahmsweise einen Widerruf bei Vorliegen eines wichtigen Grundes für zulässig. Dogmatisch wird dies insbesondere mit einer unmittelbaren, entsprechenden oder sinngemäßen Anwendung der §§ 145 ff. BGB begründet.

Auch nach Auffassung des 2. Zivilsenats des BGH sei im Ergebnis die Stimmabgabe in einer Personengesellschaft nach ihrem Wirksamwerden durch Zugang bis Beendigung der Abstimmung – vorbehaltlich einer anderen vertraglichen Regelung oder Bindungserklärung – grundsätzlich bindend und nicht mehr frei widerruflich. 

Der BGH führt aus, dass ein Gesellschafterbeschluss als Akt verbandsinterner Willensbildung keinen Vertrag im Sinne der §§ 145 ff. BGB darstelle, sondern ein eigenständiges mehrseitiges Rechtsgeschäft. Dieses beruhe auf der Zusammenfassung der einzelnen Stimmabgaben und diene der kollektiven, rechtsverbindlichen Willensbildung. Anders als bei einem Vertrag würden die abgegebenen Willenserklärungen nicht unmittelbar Wirkungen für das Rechtsverhältnis der Beteiligten entfalten, sondern erst der durch sie gebildete Organwille. Die Stimmabgabe sei auch kein einseitiges, grundsätzlich unwiderrufliches Rechtsgeschäft, da sie ihre beabsichtigte Wirkung nicht allein, sondern nur zusammen mit den Erklärungen der anderen Gesellschafter herbeiführen kann.

Vielmehr folge der grundsätzliche Ausschluss der freien Widerruflichkeit aus der Funktion der Stimmabgabe als Bestandteil der kollektiven Willensbildung und dem gemeinsamen Verbandsinteresse an einer möglichst raschen und rechtssicheren Bildung des Organwillens. Eine möglichst rechtssichere kollektive Willensbildung erfordere grundsätzlich Gewissheit über den Bestand jeder abgegebenen Stimme. Gerade bei einer großen Publikumsgesellschaft – wie im vorliegenden Fall – würde im Extremfall bei einer unüberschaubar großen Anzahl von Stimmen die Prüfung der Rechtzeitigkeit von Widerrufen das schutzwürdige Verbandsinteresse an einer zeitnahen Feststellung des Abstimmungsergebnisses beeinträchtigen.
 

Praxishinweis | BGH II ZR 64/23

Nach Ansicht des Senats folgt der grundsätzliche Ausschluss der freien Widerruflichkeit „aus der Funktion der Stimmabgabe als Bestandteil der kollektiven Willensbildung und dem gemeinsamen Verbandsinteresse an einer möglichst raschen und rechtssicheren Bildung des Organwillens“. Dies verleiht dem BGH die nötige Flexibilität, auch besonders gelagerten Fallgestaltungen Rechnung tragen zu können. Im Ergebnis ist also eine Abwägung zwischen dem Verbandsinteresse und dem Interesse des einzelnen Gesellschafters an einer Stimmänderung vorzunehmen, die im Regelfall zugunsten des Verbandsinteresse ausgeht.

Ob der Widerruf einer bereits abgegebenen Stimme ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn ein wichtiger Grund vorliegt – etwa weil der Widerruf im Interesse des widerrufenden Gesellschafters geboten und den übrigen Gesellschaftern zumutbar ist oder die gesellschafterliche Treuepflicht eine Stimmkorrektur aufgrund nachträglicher, neuer Erkenntnisse im Interesse der Gesellschaft sogar gebietet –, lässt der BGH ausdrücklich offen. Jedenfalls sei im vorliegenden Fall kein wichtiger Grund gegeben, insbesondere nicht das Angebot der Klägerin nach Abstimmungsbeginn, den Mitgesellschaftern ihre Gesellschaftsanteile unter der Bedingung einer „Nein“-Stimme abzukaufen.