BGH III ZR 44/22
Anwendung der Vermutung beratungsrichtigen Verhaltens bei mehreren Handlungsalternativen

04.09.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
15.06.2023
III ZR 44/22
DNotZ 2024, 148

Leitsatz | BGH III ZR 44/22

Schuldet ein Notar einen bestimmten Rat, Hinweis oder eine bestimmte Warnung, so spricht der erste Anschein dafür, dass die Beteiligten dem gefolgt wären. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass bei ordnungsgemäßem Verhalten nach der Lebenserfahrung lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte oder sämtliche vernünftigen Verhaltensmöglichkeiten identische Schadensbilder ergeben hätten. Besteht dagegen nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern kommen verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht und bergen sämtliche gewisse Risiken in sich, ist für einen Anscheinsbeweis kein Raum (Bestätigung von Senat, Urteil vom 10. Juli 2008 - III ZR 292/07, WM 2008, 1753 Rn. 14; Übernahme von BGH, Urteil vom 16. September 2021 - IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 36 m.w.N. für die Notarhaftung; Abgrenzung von BGH, Urteile vom 8. Mai 2012 - XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159 und vom 15. Juli 2016 - V ZR 168/15, BGHZ 211, 216).

Sachverhalt | BGH III ZR 44/22

Die Klägerin begehrt Feststellung der Schadensersatzpflicht des beklagten Notars wegen der Verletzung seiner Amtspflichten bei der Beurkundung eines Kaufvertrages über ein Erbbaurecht.

Die Klägerin hatte beabsichtigt, ein Einfamilienhaus zu erwerben. Das Objekt ihrer Begierde wurde schnell ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Erbbaurechtsgrundstück. Das Erbbaurecht war Bestandteil eines Nachlasses, für den eine Pflegschaft angeordnet war. Die Klägerin und der Nachlasspfleger wurden sich zu einem Preis von 160.000€ einig. Zudem führte die Klägerin Gespräche mit dem Eigentümer des Grundstücks, um dieses zu Eigentum zu erwerben.

Sodann übersandte der beklagte Notar einen Vertragsentwurf, in dem es unter anderem hieß, dass der Käufer sämtliche Rechte und Pflichten aus dem (genauer bezeichneten) Erbbaurechtsvertrag übernehme, dass dieser Vertrag dem Käufer bekannt sei und dass ihm eine Kopie vorläge.

Der Erbbaurechtsvertrag enthielt eine Instandhaltungsverpflichtung des Erbbauberechtigten und eine Heimfallklausel unter anderem für den Fall einer nicht ordnungsgemäßen Instandhaltung gegen eine Entschädigung in Höhe von 2/3 des gemeinen Werts der errichteten Gebäude.

Ohne vorherige Herbeiziehung des Erbbaurechtsvertrages oder Belehrung über dessen Inhalt beurkundete der Beklagte den Kaufvertrag zwischen der Klägerin und dem Nachlasspfleger. Der Vertrag wurde vom Nachlassgericht genehmigt.

Die Klägerin wurde in Grundbuch eingetragen. Die Verhandlungen mit dem Eigentümer des Grundstücks über den Erwerb des Eigentums scheiterten in der Folgezeit.

Inzwischen macht der Eigentümer des Grundstücks einen Heimfallanspruch geltend - die Klägerin habe die Instandhaltungspflicht verletzt.

Entscheidung | BGH III ZR 44/22

Unbestritten und daher nicht Gegenstand der Revision ist die Auffassung des Berufungsgerichtes, der Beklagte habe dadurch, dass er den Erbbaurechtsvertrag nicht angefordert, eingesehen und entsprechend belehrt hat, seine ihm obliegende Amtspflicht verletzt.

Bei der Beurteilung des Schadens ist das Berufungsgericht zudem zutreffend davon ausgegangen, dass es maßgeblich auf die hypothetische Vermögenslage des Betroffenen ankommt, die bestünde, hätte der Beklagte seine Amtspflicht nicht verletzt. Der Geschädigte hat dabei den haftungsausfüllenden Ursachenzusammenhang darzulegen und nachzuweisen, wobei § 287 Abs. 1 ZPO gilt.

Unabhängig davon, ob man zur Beweisführung bloß eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreichen lässt, oder eine „deutlich überwiegende, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit“ für erforderlich hält, so kann der infragestehende Beweis hier nicht geführt werden. Es besteht schon keine überwiegende Wahrscheinlichkeit.

Insbesondere sind die Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung beratungsrichtigen Verhaltens nicht erfüllt. Denn nach der Rechtsprechung des Senates ist eine Berufung auf diese ausgeschlossen, wenn es mehrere naheliegenden Handlungsoptionen gibt. So liegt der Fall hier.

Zwar spricht der erste Anschein dafür, dass wenn - wie hier - der Notar einen bestimmten Rat, Hinweis oder eine Warnung schuldet, die Beteiligten diesem auch gefolgt wären. Dafür erforderlich ist jedoch, dass ein bestimmtes Verhalten nach der Lebenserfahrung nahegelegen hätte oder sämtliche vernünftigen Verhaltensweisen identische Schadensbilder abgegeben hätten. Bestehen jedoch mehrere gleichwertig vernünftige Handlungsmöglichkeiten, die zu unterschiedlichen Schadensbilder führen, so ist für den Anscheinsbeweis kein Raum mehr. Die dem Beweis des ersten Anscheins zugrundeliegende Lebenserfahrung kann sinnvollerweise keinen Aufschluss drüber geben, wie sich der Betroffene zwischen mehreren gleichwertigen Handlungsmöglichkeiten entscheiden hätte.

Insbesondere darf die Wertung des § 287 ZPO nicht unterlaufen werden. Fände der Anscheinsbeweis auch bei Entscheidungskonflikten Anwendung, so würde der Notar unabhängig vom Vorliegen überwiegender Wahrscheinlichkeit de facto auch dann haften, wenn sich - wie hier - lediglich die Erwartungen der Klägerin, das Eigentum am Grundstück zu erwerben, im Nachgang nicht erfüllen.

Da der beteiligte Notar an dem Geschäft kein eigenes Interesse hat, sind auch die vom BGH im Kapitalanlagefall entwickelten Erwägungen zur Beweislastumkehr nicht übertragbar. Die Pflichten eines Notars seien „vergleichbar heterogen wie die Beratungspflichten eines Rechtsanwaltes oder Steuerberaters“.

Im Ergebnis besteht daher mangels ausreichenden Beweises der haftungsausfüllenden Kausalität kein Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz.

Praxishinweis | BGH III ZR 44/22

Trotz der Vermutung beweisrichtigen Verhaltens wird in der Praxis die haftungsausfüllende Kausalität weiterhin vom Anspruchsteller bewiesen werden müssen. Es existiert nur selten eine einzige vernünftige Handlungsalternative. Eine Absicherung wäre für die Beteiligten lediglich dann möglich, wenn sie dem Notar ausdrücklich ihre Ziele mitteilen und diese entsprechend vermerkt werden.