Die virtuelle/hybride Hauptversammlung – Rechtslage und aktuelle Entwicklungen

Das Aktiengesetz geht bis heute vom Leitbild einer Hauptversammlung als das alljährliche physische Zusammenkommen der Aktionäre aus. Durch die zunehmende Digitalisierung in allen Lebensbereichen ist bereits Ende des vergangenen Jahrtausends in der Fachliteratur die Frage aufgekommen, ob Hauptversammlungen auch virtuell/hybrid durchgeführt werden können. Mit Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 hat sich die bis dato eher stiefmütterlich geführte Diskussion neu entzündet, da öffentlich-rechtliche Vorschriften die Abhaltung von Präsenzversammlungen häufig unmöglich gemacht haben und es somit zur Aufrechterhaltung der gesellschaftsrechtlichen Handlungsfähigkeit alternativer Modelle bedurfte.

 

1. Grundlagen und Funktion der Hauptversammlung

Die Hauptversammlung stellt ein Forum zur internen Diskussion wesentlicher Fragestellungen der Gesellschaft dar, an dem die Aktionäre durch ihr Teilnahmerecht sowie ihr Frage- und Rederecht partizipieren. Das typusprägende Element einer jeden Versammlung liegt in ihrem kommunikativen Charakter, der sich vornehmlich in der Möglichkeit zu Rede und Widerrede, aber auch in der nonverbalen Kommunikation (z.B. Gestik, Mimik) widerspiegelt. Eine besondere Bedeutung kommt auch der Geheimhaltung des gesprochenen Wortes zu. Durch den Ausschluss von Dritten wie beispielsweise der Presse oder Beratern aus der Versammlung werden Diskretion und die persönliche Gesprächsatmosphäre gesichert. Hierdurch wird gewährleistet, dass jeder Aktionär seine Meinung ohne Angst vor Repressalien durch Dritte frei äußern kann und dass es für die Gesellschaft zu keinen ökonomischen oder die Reputation betreffenden Nachteilen, die aus der ungewollten Veröffentlichung von Interna (z.B. Geschäftsgeheimnissen) resultieren können, kommt.

 

2. Virtuelle/hybride Hauptversammlungen bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie

a) Zulässigkeit virtueller Hauptversammlungen

Der Gesetzgeber hält seit vielen Jahren nicht mehr strikt am Grundsatz der Präsenzversammlung fest, sondern hat eine wesentliche Erleichterung vorgesehen. § 118 Abs. 1 S. 2 AktG ermöglicht Aktiengesellschaften seit langem die Abhaltung von Hybridversammlungen, wenn diese durch die Satzung vorgesehen sind. Eine hybride Hauptversammlung liegt vor, wenn einige Teilnehmer wie der Versammlungsleiter und der Notar körperlich vor Ort anwesend sind und weitere Teilnehmer, insbesondere die Aktionäre, digital zugeschaltet werden. Eine solche Zusammenkunft ist audiovisuell (z.B. Zoom), rein auditiv (Telefonkonferenz) oder im Chatformat denkbar. Im Unterschied hierzu spricht man von einer virtuellen Hauptversammlung, wenn sämtliche Teilnehmer nur digital miteinander verbunden sind. Die zutreffende herrschende Auffassung lehnt es ab, dass den Aktionären durch Satzung das Recht auf physische Präsenz am Versammlungsort entzogen werden kann. Rein virtuelle Hauptversammlung sind damit de lege lata nicht zulässig. Demgegenüber können andere Rechtsträger wie beispielsweise die GmbH die Zulässigkeit virtueller Versammlungen in ihrem Gesellschaftsvertrag verankern, da die gesetzlichen Regelungen ihnen dort in einem höheren Maße zur Disposition gestellt werden.

b) Defizite virtueller Hauptversammlungen

Virtuelle/hybride Hauptversammlungen weisen im Vergleich zu ihrem präsenten Pendant einige Besonderheiten auf, die auch auf ihre rechtliche Behandlung ausstrahlen. Erstens gilt dies in Bezug auf die Kontrolle der Anwesenheit nur des berechtigten Teilnehmerkreises. Während im präsenten Rahmen durch eine Ausweiskontrolle zuverlässig sichergestellt werden kann, dass sich keine Unbefugten im Raum aufhalten, ist dies virtuell nur eingeschränkt möglich, da elektronische Identifikationsmechanismen keine vergleichbaren Sicherheitsstandards erreichen. So kann beispielsweise auch ein passwortgeschützer Zugang das Risiko der Teilnahme einer unberechtigten Person nicht ausschließen. Selbst wenn die Versammlung über Zugangscodes sowie Face-ID verfügt, lässt sich nicht kontrollieren, wo der Gesellschafter sitzt oder von wo dieser zugeschaltet wird oder ob er ohne Wissen der Gesellschaft das Gesicht manipuliert. Damit einhergehend kann im virtuellen Rahmen auch nicht sichergestellt werden, dass die Inhalte der Versammlung nicht unbefugt durch Dritte Mitgesehen, Mitgehört oder Mitgeschnitten werden. Unabhängig von den Sicherheitsvorkehrungen durch die Gesellschaft drohen auch Sicherheitslücken durch den nachlässigen Umgang der Teilnehmer mit den Sicherheitsvorkehrungen. Hier besteht insbesondere die Gefahr der Manipulation von Abstimmungsergebnissen. Wie bei der Kontrolle der Anwesenheit ist es kaum möglich, nachzuvollziehen, ob tatsächlich die berechtigte Person ihre Stimme abgegeben hat. Es ist mittlerweile wissenschaftlich untermauert, dass es während dem durch die Corona-Pandemie ausgelösten Hauptversammlungs-Schub selbst großen börsennotierten Gesellschaften und auf virtuelle Versammlungen spezialisierten Anbietern nicht gelungen ist, virtuelle/hybride Versammlungen vor dem unbefugten Zugriff Dritter sowie vor einer Manipulation von Teilnehmern, Quoren und Abstimmungsergebnissen zuverlässig zu schützen.

Darüber hinaus gehen in einer virtuellen Umgebung wichtige Elemente des Diskurses verloren. In der sozialwissenschaftlichen Literatur ist anerkannt, dass Debatten im virtuellen und im präsenten Raum nicht gleichgesetzt werden können, sondern häufig einen vollkommen anderen Charakter aufweisen. Ursache hierfür ist, dass wesentliche kommunikative Elemente im Cyberspace nicht erreicht werden können. Dies betrifft vor allem die fehlende nonverbale Kommunikation in Form von Gestik und Mimik der Teilnehmer oder die sich schnell einsetzende Erschöpfung bei Online-Debatten („Zoom-Fatigue“). Auch eine offene Aussprache und die direkte Kommunikation kann präsent besser als durch ein zwischengeschaltetes Medium erfolgen. Hinzu treten in virtuellen Formaten die Schwierigkeiten, eine Redeabfolge zu bestimmen und die Konversationsgeschwindigkeit zu steuern. Aus der Praxis wird berichtet, dass die ungehinderte Rede und Gegenrede bei virtuellen Formaten häufig durch eine schlechte Bild- und Tonqualität sowie durch Totalausfälle wie z.B. das Entfernen einzelner Teilnehmer aufgrund einer schlechten Internet-verbindung, einen Serverzusammenbruch oder unzureichende Hardware der Teilnehmer gestört wird.

 

3. Virtuelle Hauptversammlungen während der Corona-Pandemie

Das Auftreten der Corona-Pandemie seit Beginn des Jahres 2020 hat Präsenzversammlungen in vielen Fällen nicht nur aufgrund von Kontakt- und Einreisebeschränkungen sowie von Teilnehmerbeschränkungen rechtlich unmöglich gemacht. Um die in Krisenzeiten unerlässliche gesellschaftsrechtliche Funktions- und Handlungsfähigkeit deutscher Unternehmen aufrechtzuerhalten, hat der Gesetzgeber Sonderregelungen getroffen, in denen der Anwendungsbereich der virtuellen oder hybriden Beschlussfassung zeitlich begrenzt erheblich erweitert wird. So wurde durch § 1 Abs. 2 COVMG für Aktiengesellschaften erstmals die Möglichkeit für eine (rein) virtuelle Hauptversammlung eröffnet. Darüber hinaus kann der Vorstand nun gem. § 1 Abs. 1 COVMG auch ohne Satzungsermächtigung unter gewissen Voraussetzungen eine hybride Hauptversammlung abhalten lassen. Darüber hinaus wurde Ausgestaltung der hybriden Hauptversammlung in vielen Punkten, etwa im Hinblick auf verkürzte Einberufungsfristen oder auf eine Einschränkung des Anfechtungsrechts, temporär vereinfacht. Diese Regelungen laufen zum 31.08.2022 aus.


4. Zukünftige Rechtslage: Referentenentwurf zur Verstetigung der virtuellen HV

a) Grundlagen

Die neue Bundesregierung hat sich in Anbetracht der zeitlichen Befristung der pandemiebedingten Sondervorschriften in ihrem Koalitionsvertrag auf die Schaffung von dauerhaften Regelungen für virtuelle Hauptversammlungen geeinigt. Am 9. Februar 2022 hat das Bundesjustizministerium den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen für die Rechtsformen der SE, KGaA sowie den VVaG veröffentlicht, durch welchen die zeitlich unbegrenzte Zulässigkeit virtueller Hauptversammlungen festgeschrieben werden soll. Bundesjustizminister Buschmann geht davon aus, dass die Aktionärsrechte auf der einen Seite durch den Entwurf deutlich gestärkt werden und die Regelungen auf der anderen Seite für die Unternehmen praktikabel blieben. Inhaltlich bestehen große Überschneidungen zwischen dem Referentenentwurf und der gegenwärtigen Rechtslage unter Geltung der pandemiebedingten Sondervorschriften. Teilweise gibt es aber auch erhebliche Unterschiede. § 118a Abs. 2 AktG-E sieht als Zentralnorm vor, dass es einen physischen Versammlungsort gibt, an dem die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie der Versammlungsleiter teilzunehmen haben. Die Entscheidung für die virtuelle (genauer wäre: hybride) Hauptversammlung bedarf einer Grundlage in der Gesellschaftssatzung, so dass die Aktionäre über deren Format entscheiden. Diese Entscheidung muss spätestens alle fünf Jahre neu legitimiert werden. Die Abhaltung der Versammlung als virtuelle Hauptversammlung wird zum Schutz der Aktionäre an verschiedene Voraussetzungen wie beispielsweise die Möglichkeit, im Vorfeld der Versammlung Stellungnahmen einzureichen, geknüpft. Um Anfechtungsrisiken für die Gesellschaften abzumildern, werden die bestehenden Vorschriften des Aktiengesetzes, die Anfechtungsmöglichkeiten im Falle technischer Störungen begrenzen, auf die virtuelle Hauptversammlung ausgedehnt (§ 243 Abs. 3 AktG-E). Zudem wird für die einzelnen Aktionärsrechte festgelegt, wann und in welcher Form diese im Rahmen der virtuellen Hauptversammlung zu gewähren sind. Der größte Unterschied zur Rechtslage vor Ausbruch der Corona-Pandemie ist, dass für die Aktionäre kein unentziehbares Präsenzrecht vorgesehen ist, vgl. § 118a Abs. 1 AktG-E.

b) Bewertung

In der Fachliteratur stößt das vorgeschlagene Modell überwiegend auf uneingeschränkte Zustimmung, es formiert sich aber in grundsätzlichen Fragen zunehmend Widerstand. Auch hier fällt die Beurteilung des Referentenentwurfs ambivalent aus. Der Entwurf verdient auf der einen Seite Zustimmung im Hinblick darauf, dass er die Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen hybride Hauptversammlungen stattfinden, den Aktionären überlässt. Zu begrüßen ist auch, dass diese Entscheidung spätestens alle fünf Jahre neu legitimiert werden muss.

Indes ist zu kritisieren, dass die Entwurfsbegründung das Gesetz nicht trägt. Die gesamte Begründung stellt auf Belange großer börsennotierter Unternehmen ab. Dies sind in etwa 500 der ca. 14.000 deutschen Aktiengesellschaften. Aber auch bei börsennotierten Unternehmen sollte angesichts der großen Defizite im Bereich der Kommunikations- und Datenmanipulationssicherheit einer qualifizierten Minderheit (z.B. 5 %) ein Anspruch auf Abhaltung einer Präsenzversammlung eingeräumt werden. Die Entwurfsbegründung behauptet, dass virtuelle Hauptversammlungen höhere Präsenzzahlen nach sich ziehen. Dies wird aber zu Recht mit Verweis auf die Präsenzzahlen aus dem Jahr 2021 als falsche Annahme entlarvt.

Es ist aber überzeugend, dass die neuen Regelungen ausdrücklich für sämtliche Aktiengesellschaften gelten sollen. Mit Recht wird die Frage gestellt, ob nicht besser zwischen börsennotierten- und nicht börsennotierten Gesellschaften differenziert werden sollte. In Deutschland haben viele Aktiengesellschaften einen kleinen oder mittelgroßen Aktionärskreis. Hier erscheint es nicht angemessen, dass die Mehrheit der Minderheit mit ¾ Mehrheit eine virtuelle Hauptversammlung aufzwingen kann, da in einer solchen erstens nicht dieselben Aktionärsrechte wie in Präsenzversammlungen bestehe und die virtuelle Hauptversammlung zweitens auch darüber hinaus nicht gering zu achtende Defizite aufweist. Zu kritisieren ist auch, dass sich im Referentenentwurf keine allgemeinen Mindeststandards im Hinblick auf die Gewährleistung einer angemessenen Gesprächsatmosphäre und der Datensicherheit. Weder die Entwurfsbegründung noch das vorgeschlagene Gesetz gehen auf die Probleme der Datensicherheit, der Geheimhaltung und den Aspekt ein, dass gerade der Minderheit dauerhaft das Recht auf physische Teilnahme an einer Präsenzversammlung genommen wird. Die vorgeschlagenen Neuregelungen stellen eine Hauptversammlung mit kommunikativen Charakter nicht sicher, da eine Diskussion nur sehr eingeschränkt stattfindet (z.B. Vorabeinreichung von Fragen und damit keine Spontanität). Die Eindrücke aus den „Corona-Hauptversammlungen“ belegen, dass virtuelle Hauptversammlungen mehr einem Monolog des Vorstands ähneln als einer wirklichen Diskussion. Es drängt sich daher die Frage auf, ob dies noch mit dem Versammlungszweck, namentlich der gesellschaftsinternen Willensbildung, vereinbar ist. Nicht sachgerecht ist schließlich auch, dass das Risiko technischer Probleme nahezu vollkommen in die Sphäre der Aktionäre verlagert wird. Die Entscheidung, dass die Beauftragung eines Dienstleisters zur technischen Durchführung der Hauptversammlung grobe Fahrlässigkeit der Gesellschaft ausschließt, vermag nicht zu überzeugen, da einerseits die Gesellschaft die Wahl des Formats und des technischen Dienstleisters in der Hand hat und andererseits dadurch die Gesellschaftsinteressens einseitig über die Interessen der Aktionäre gestellt werden. Fraglich ist auch, wieso die Präsenzversammlung im Referentenentwurf gegenüber der virtuellen Versammlung diskriminiert wird. Die Erleichterungen bei der virtuellen/hybriden Hauptversammlung lassen sich nicht mit ihren Eigenheiten erklären. Auch bei Präsenzversammlungen wäre beispielsweise ein Vorab-Frageeinreichungsrecht ohne weiteres möglich.


6. Fazit

Die zunehmende Digitalisierung in allen Lebensbereichen macht auch vor dem Gesellschaftsrecht nicht Halt. Grundsätzlich sind diese Entwicklungen zu begrüßen, da virtuelle Hauptversammlungen Kosten senken und Präsenzquoten steigern können. Zwei wesentliche Dinge sind jedoch zu beachten. Erstens ist kein Grund dafür ersichtlich, für präsente- und virtuelle Hauptversammlungen mit einem unterschiedlichen Maß zu messen. Soweit dies möglich ist, sollten beide Modelle rechtlich gleichbehandelt werden. Nur soweit die Spezifika virtueller Hauptversammlungen eine unterschiedliche Behandlung erfordern, kann eine solche gerechtfertigt werden. Es müssen daher allgemeine Mindeststandards festgelegt werden, die eine Funktionsäquivalenz von Präsenz- und virtuellen/hybriden Versammlungen so weit wie möglich sicherstellen. Zweitens erscheinen die vorgeschlagenen Regelungen nur für börsennotierte Gesellschaften, nicht aber für nicht börsennotierte Gesellschaften als passend. Es bleibt zu hoffen, dass diese Punkte Eingang in die Diskussion finden. Rechtstatsächlich ist zu erwarten, dass es angesichts der weitgehenden Erleichterungen für hybride Versammlungen sowie angesichts ihrer nicht zu leugnenden Vorteilen (Effizienzsteigerungen, geringere Kosten, höhere Präsenzquoten) die Präsenzversammlung weiter an Bedeutung verlieren wird. Die Praxis ist nun aufgerufen, klare Regelungen in der Satzung vorzusehen und den Schutz der Minderheit zu gewährleisten.

Autor: Prof. Dr. Heribert Heckschen, Notar, Dresden

 

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